Am 11. Oktober 2001 war es bedeckt und
ziemlich schwül. Wir fuhren zum Illetes Strand, um von dort Richtung
S’Espalmador zu wandern.
Schon bald konnte man auf
der rechten Seite den Llevantes Strand sehen. Immer schmaler wurde der
Abstand zwischen den beiden Stränden und wenn man auf einer kleinen Anhöhe
stand, konnte man gut beobachten, wie ruhig an dem Tag das Meer auf der
Westseite an Land plätscherte, während es sich auf der Ostseite unter
dem Getöse brechender Wellen an den Strand warf.
Mein
Freund Robsen
hatte bald keine rechte Lust mehr, noch weiter zu laufen, zumal es so aussah,
als wenn es bald Regen geben könnte. So setzte er sich auf einen etwas höheren
Sandhügel und gab mir eines seiner kleinen Funkgeräte mit. Für ihn auch
endlich eine Gelegenheit, die Reichweite seiner Funken mal wieder zu testen. Ich
ließ meine Tasche bei ihm und stapfte weiter Richtung Norden durch den Sand,
das Funkgerät in der einen, den
Fotoapparat in der anderen Hand und über der
Schulter hing die Videokamera.
Nach einiger Zeit tauchten
die ersten, merkwürdigen Gebilde auf. Stöcke, Steine, Seile und andere
Fundsachen waren so miteinander verbunden worden, dass es mich an
indianische Kultstätten erinnerte. Noch nichts Besonderes, mit relativ
geringem Aufwand arrangiert, aber interessant anzusehen.
In
weiter Ferne jedoch schien es viel mächtigere und imposantere Bauten dieser Art
zu geben. Neugierig geworden lief ich weiter. Zwischendurch blickte ich mich
immer wieder um und sah recht düstere Wolken den Himmel hochziehen. Egal. Jetzt
wollte ich wissen, was für Geheimnisse es weit vor mir zu entdecken gab.
Auf
einer Anhöhe steckte ein kräftiger „Holzspeer“ in einer
Steinpyramide, während ein Fischnetzteil wie eine Flagge im Wind
flatterte. Ein Stückchen weiter thronte ein steinerner Stier im Sand.
Ringsherum waren die unterschiedlichsten Steinformen zu kleinen Gebilden
aufeinander geschichtet worden, manchmal in T-Form, und ich staunte über
die Stabilität. Vor mir sah ich eine riesige Konstruktion aus Steinen, Ästen,
Seilen und dicken Tauen, Fischnetzen und weiterem Treibgut. Ich war
angekommen.
Bevor
ich auf dieses riesige Werk zuschritt, entdeckte ich im Sand zwei große
Initialen: „J.S.“. Aha. Vorsichtig ging ich weiter, staunend, alles mit den
Augen aufsaugend, fasziniert.
Im
Inneren des großen Werkes waren Auszüge aus antiken Sagen in Folie an
dicke Stämme geheftet. Ich konnte mich auf die schwierige Sprache nicht
konzentrieren. Mein Blick schweifte immer wieder ab zu den fantasievollen,
surrealistisch wirkenden Gebilden. Und während ich dort so in mich
versunken stand, bemerkte ich aus den Augenwinkeln, dass sich jemand näherte.
Ich
drehte den Kopf und beobachtete, wie ein Mann in hellblauem Jeanshemd, Badehose
und Arbeitshandschuhen einen großen Stein heranschleppte. Das musste er sein,
der Erbauer des Ganzen. Er wirkte „unauffällig“, gar nicht wie ein Freak
oder so und war ca. Anfang 50. Ich vermutete, dass er Deutscher sein könne und
so sprach ich ihn einfach an. „Entschuldigung, wie lange arbeiten Sie schon
hieran?“ „Ungefähr zehn Jahre“, entgegnete er freundlich lächelnd. Ich
war baff. 10 Jahre! Ich fragte ihn, ob Wind und Wetter nicht immer wieder vieles
zunichte machen würde. „Nein“, meinte er, „eher die Touristen.“ Die großen
Steine habe er oft mit Hilfe von kleinen Steinen aufeinander geschichtet, so
dass eine recht gute Stabilität entstand. Dadurch, dass der Wind überall
durchwehen könne, hätte er keine rechte Angriffsfläche und würde nichts
umwehen. Aber die Touristen, tja, die würden leider immer wieder testen wollen,
wie stabil das ein oder andere Gebilde wirklich sei. Und dann würde solange
daran herumgerüttelt und gezogen, bis endlich alles zusammenbräche. Den „Toro“
habe er absichtlich am Anfang aufgebaut. Der sei ein schönes Fotomotiv und
manche Touristen wären darüber so froh, dass sie dann die anderen Bauten in
Ruhe ließen.

Über
einem Durchgang zum Meer entdeckte ich eine Holzplanke mit dem
eingebrannten Namen „La Riada“. Ich fragte ihn nach der Bedeutung, da
mein Spanisch nicht so gut sei und er erklärte, es würde „Sturmflut,
Überschwemmung“ bedeuten. Alle Sachen, die er hier verwenden würde,
seien im Umkreis von ca. 200 Metern an den Strand geschwemmt worden, außer
den Steinen natürlich, die wären halt schon da.
Innerhalb
der „Riada“ sah es richtig „heimelig“ aus, einige Sitzgelegenheiten und
eine Art Liege gab es und weitere Gegenstände ließen darauf schließen, dass
„J.S.“ hier zeitweise sogar zu wohnen schien.
Er deutete auf ein extrem
dickes schwarzes Tau und verriet mir schmunzelnd einen tollen Trick: das Tau sei
ungefähr 30 Meter lang und es war ihm unmöglich, es alleine bis zur „Riada“
zu ziehen. Also legte er es in riesige Schlaufen und begann, eine Schlaufe nach
der anderen in Richtung Ziel umzukippen. Das wiederholte er solange, bis er mit
dem Tau dort angekommen war, wo er es anbringen wollte. Nicht schlecht. Auf die
Initialen „J.S.“ angesprochen gab er lächelnd zu, dass er eigentlich nur
„J.“ im Sand verewigt hätte. Aber irgendwer sei wohl hinter seine Identität
gekommen und habe das „S.“ dahinter gesetzt. Plötzlich ließ sich ein
Kormoran am Ufer nieder. Ja, den kenne er schon. Er hätte noch ein zweites
„Haustier“, etwas weiter links, direkt im Wasser: einen Tintenfisch, der
sich ab und zu mal blicken lasse. Ich beneidete ihn. Er war seit zehn Jahren
dabei, sich hier einen Traum zu verwirklichen und wirkte total entspannt und glücklich.
Ich konnte mir vorstellen, dass er in Deutschland einen guten Job hatte, der es
ihm ermöglichte, öfter im Jahr sein „zweites Leben“ zu genießen. Aber ich
wollte keine weiteren Fragen mehr stellen. Ich schaute auf das Meer und fühlte
mich selber so wohl, dass ich einfach nur da bleiben wollte und anfing, in die
beginnende Dämmerung zu träumen.
Ein leises Schnarren des
Funkgeräts beendete abrupt meinen Tagtraum. Ich schaltete es aus, denn jetzt über
ein Funkgerät zu sprechen, hätte die traumhafte Atmosphäre vollends zerstört.
Trotzdem war es langsam Zeit, den Rückweg zu beginnen. Ich verabschiedete mich
und wünschte J.S. noch alles Gute. Er schlenderte zu einer am Boden liegenden
Tasche, entnahm ihr ein Buch und setzte sich hin zu einer ruhigen Leserunde mit
Blick auf das Meer.
Ich wusste, dass ich hierhin
auf jeden Fall noch einmal wiederkehren würde...
P.S.: Im November 2001
wütete ein sehr starker Sturm über die Balearen und richtete auch auf
Formentera große Schäden an. "La Riada" hat jedoch wie durch ein
Wunder auch dieses Unwetter unbeschadet überstanden...
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